Der Pilgerweg beginnt vor deiner Tür
„Du musst nicht über Meere reisen, musst keine Wolken durchstoßen und musst nicht die Alpen überqueren. Der Weg der dir gezeigt wird, ist nicht weit. Du musst deinem Gott nur bis zu dir selbst entgegengehen.“ Bernhard von Clairvaux
Jahr für Jahr gehen tausende von Pilgern hunderte Kilometer auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Sowenig man Spiritualität, das zunehmendes Bewusstsein für eine achtsame Lebensweise oder Fasten als Modetrend bezeichnen kann, ist auch der immer stärker werdende Pilgerstrom mehr als nur eine temporäre Erscheinung. Den Jakobsweg an sich gibt es gar nicht- oder nur als abstrakten geographischen Begriff. Was zählt, ist der jeweilige Mensch, der sich auf das Abenteuer Jakobsweg einlässt und ganz persönliche Motivationen und Erfahrungen mitbringt. Pilgerwege durchziehen die ganze Welt, Pilgertraditionen kennt jede große Religion. In unserem abendländischen Kulturkreis war das Pilgern ein fester Bestandteil spätmittelalterlicher Alltagsfrömmigkeit.
Pilgermotive
Man pilgerte im Mittelalter zum eigenen Seelenheil, zur Heiligenverehrung, zur Buße und Reue, in der Hoffnung auf wunderbare Heilung, zur Erfüllung eines Gelübdes, als gerichtlich verhängte Strafwallfahrt, aus Abenteuerlust, als Händler und Handwerker oder aus Staatsräson für Könige und Staatsmänner. Manche Pilgermotive des Mittelalters haben heute kaum noch Relevanz, andere sind hinzugekommen, einige sind zeitloser Natur. Mit dem Einzug der Reformation und der heftigen Kritik Luthers am Pilgerwesen endete die Epoche der frommen Mobilität. Auch in katholisch verbliebenem Gebieten gab es keine Pilgerfahrten mehr.
In unserer schnelllebigen, konsum- und mediengesättigten, von Rastlosigkeit geprägten Zeit erfährt das Pilgern im Streben nach Entschleunigung, Sinnsuche, Spiritualität im Alltag, einem friedlichen Miteinander der Kulturen, Einfachheit und persönlicher Freiheit eine Renaissance.
Vom Ursprung des Jakobsweges
Der Pilger- auch Pilgrim, Peregrino oder Pelegrinus genannt, bedeutet so viel wie Fremder oder Wanderer. Neben Jerusalem und Rom wurde ab dem 9./10.Jahrhundert Santiago de Compostela der bedeutendste Wallfahrtsort der christlichen Welt. Im Jahr 813 wurde das Grab des Apostels Jakobus entdeckt. Damit begann die Geschichte der Jakobus-Pilgerfahrten und der Stadt Santiago de Compostela -„Sankt Jakob auf dem Sternenfeld“.
Außer dem Grab des Heiligen Petrus in Rom hat kein anderes Apostelgrab diese religiöse, kunst- und kulturgeschichtliche Bedeutung erlangt, wie jenes des Heiligen Jakobus, der einst Fischer in Galiläa war. Seine besondere Rolle unter den Aposteln und seine Nähe zu Jesus wird u.a. im Geschehen am Ölberg im Garten Gethsemane deutlich, bei der allein Petrus, Johannes und Jakobus dem betenden Jesus beistanden. Jakobus predigte auf der iberischen Halbinsel. Im Jahr 42 wurde Jakobus unter Herodes in Jerusalem enthauptet. Nach seinem Märtyrertod wurde der Leichnam mit einem Schiff zum heutigen Padron überführt und trat von dort die Reise nach Santiago an, jener Stadt, die durch die Grablege von St. Jakobus gegründet wurde. Neben der Muschel sind Pilgerstab mit angehängter Trinkflasche, Hut und Umhang Attribute des Heiligen Jakobs. Die Jakobsmuschel diente nicht nur als Erkennungsmerkmal der Pilger, ihren praktischen Nutzen als Trinkschale hatten die Reisenden bald entdeckt und befestigten sie an ihrer Kleidung. Noch heute weist sie als Markierung an Bäumen, Straßenschildern und Mauern dem Pilger den Weg.
Angeregt durch glücklich heimgekehrte Pilger in der Familie, einen Pilgerführer durch Mitteldeutschland und den humorvoll-tiefsinnigen Film „St. Jaques – Pilgern auf Französisch“ gehen auch wir seit 2009 jedes Jahr auf unseren Jakobsweg.
Erfahrungen des Pilgerns
Das Gehen
Mit dem Gehen bringen wir häufig grundlegende menschliche Erfahrungen zum Ausdruck. So sagen wir etwa: Es geht wieder. Ich bin zu weit gegangen Ich schlage einen neuen Weg ein. Wie geht es? Gehen ist wohl die eindrücklichste Erfahrung jedes Kindes, das die haltende Hand loslässt, die ersten eigenen Schritte geht und damit das Erlebnis persönlicher Freiheit wahrnimmt.
Im Gehen liegt auch beim Pilgern der Schlüssel zur Dimension der eigenen Körpererfahrung. Mehr als die Hälfte unserer Körperlänge, von den Hüften bis zu den Zehen ist ausschließlich für die Tätigkeit des Gehens geschaffen. Unser aufrechter Gang ist Ausdruck und Symbol des Menschseins. Der Ausspruch „Es ginge vieles besser, wenn man mehr ginge…“ weist auf das neuzeitliche, unserer Mobilität geschuldete Defizit des Gehens, der natürlichsten Form menschlicher Bewegung hin. So sieht man allerorten Menschen joggen, um dieses Defizit im Schnelldurchgang auszugleichen. Dies ist jedoch keine natürliche Form ausdauernden Bewegens, sondern eher eine Jagd- und Fluchtfunktion. Wer längere Zeit auf dem Jakobsweg ist, übt das Gehen wieder ein, für das der Mensch eigentlich bestimmt ist und entdeckt so seinen Körper neu. Auch wenn sich vielleicht der laufentwöhnte Pilger anfänglich unter Schmerzen an die natürliche Tätigkeit des stundenlangen Gehens gewöhnen muss. Das kontinuierliche Fortschreiten der Beine, das Pulsieren des Herzschlags und das regelmäßige Fließen des Atems spielen sich zu einem Rhythmus ein, in dem wir uns als heiler erfahren. Der Körper kommt immer mehr ins Gleichgewicht aus Geben und Nehmen. Eine wunderschöne Nachwirkung des Pilgerns ist, dass man auch im Alltag wieder viel selbstverständlicher längere Distanzen zu Fuß geht und häufiger auf öffentliche Verkehrsmittel oder das Auto verzichtet.
Sorgenfreiheit und Langsamkeit
Glücklich sein will gelernt sein! Auf dem Pilgerweg Erfüllung und Glück zu finden bedeutet, sich wirklich ganz auf den Weg einzulassen, alles was dir begegnet ohne Hast und mit allen Sinnen aufzunehmen. Es bedeutet auch, es einfach Abend werden zu lassen, wenn man nach langem Gehen in der Herberge angekommen ist. Du schaust in Ruhe dem Sonnenuntergang zu, hast nichts mehr zu erledigen, musst nichts mehr tun, außer da zu sein wo du bist, dich zu stärken, auszuruhen, den Tag mit einer Meditation oder einem Dankesgebet zu beenden. Einen Urlaub empfinde ich anders als das Pilgern, auch wenn ich in diesem intensive Natureindrücke aufnehme und große Strecken zu Fuß unterwegs bin. Die Kontinuität und Intensität des Ankommens und Loslassens beim Pilgern, die inneren und äußeren Bilder, die ich in stiller Kontemplation aufnehme, prägen jeden einzelnen Tag tief in meinem Inneren ein. Während der Pilgerreise verschwinden innere Unruhe, Begrenzungen, Termindruck und Pflichtgefühl. Das Pilgern erleichtert eine sorglose Haltung. Alles fügt sich auf selbstverständliche Weise.
Einfachheit
In dem Moment wo du losgehst oder, wenn du von einem anderen Ausgangspunkt startest, aus dem Flugzeug oder Zug steigst, wird dein Leben radikal einfach. Auf dem Rücken ein überlegt gepackter Rucksack, dessen Gewicht idealerweise nicht mehr als 10% deines Körpergewichtes auf die Waage bringen sollte, in den alles hineinpasst, was du wirklich zum Überleben brauchst. Auch deine tägliche Aufgabe ist einfach: gehen, essen, beten, schlafen…Der Tagesablauf ist klar geordnet. Die gewollte äußere Beschränkung bringt großen inneren Reichtum zum Vorschein, macht dich leicht und glücklich. Einfachheit erleichtert das Leben sehr. Mit der Zeit kannst du innerlich immer mehr loslassen: Gespräche, Gedanken, Ablenkung, Zerstreuung, Ansprüche an ein Quartier. Im Loslassen entsteht Raum für Neues und Wesentliches. Manchmal gehst du durch Landschaften, Orte und Straßen, die verlassen oder traurig auf dich wirken. Doch kurz darauf wird deine Seele von einem Lächeln aus einem Fenster, einer neugierig blickenden Katze oder einem murmelnden Bach am Dorfrand berührt und aufgerichtet. Köstlich und einfach ist auch das Pilgermahl unterwegs – Knäckebrot, Avocado, frische Kräuter von der Wiese, Nüsse, ein wenig Obst und Gemüse. Der Pilger kehrt erst am Abend ein oder kocht in der Herberge ein schlichtes Mahl, dessen Zutaten von unterwegs mitgenommen werden. Als Pilger lernt man auch im Alltag und auf Reisen mit immer weniger Dingen zurechtzukommen.
Dankbarkeit
Dankbarkeit ist dein ständiger Begleiter auf dem Weg. Dankbar bist du für eine Bank oder ein weiches Moospolster, wenn dein Körper sich nach einer längeren Distanz ausruhen möchte. Dankbar bist du für manche Köstlichkeit am Wegesrand, wie saftige Kräuter oder Kirschen. Dankbar kühlst du deine Beine oder gleich den ganzen Körper in einem See und dankbar füllst du deine Trinkflasche an einer erfrischenden Quelle. Dankbarkeit empfindest du natürlich ganz besonders, wenn du am Abend von deinen Gastgebern mit einem extra für dich zubereiteten vegetarischen Mahl empfangen wirst und man sich gegenseitig eine Lebensgeschichte erzählt. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zu frischem Wasser. Er erquicket meine Seele und führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte in finsterem Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir…“ Psalm 23
Offenheit und Vertrauen
Du verlässt beim Pilgern den schützenden Raum des Alltags, all dessen, was dir gewiss ist. Du tauschst dein vertrautes Umfeld, deine Behaglichkeit gegen unbekannte Wege und Umwege, Wind und Wetter. Du musst dich auf die Umstände einstellen, selbst gesetzte Begrenzungen überwinden. Je offener du bist, umso mehr Erfahrungen jenseits des Gewohnten machst du. Offenheit verwandelt dich.
Begegnung und Gemeinschaft
Wenn du dich auf den Weg machst und bereit bist, dich innerlich und äußerlich berühren zu lassen, wenn du deine Sinne feiner stellst und im Gewöhnlichen das Wunderbare zu sehen beginnst, begegnest du dir und deiner Umgebung auf einer neuen Verständnisebene. Die Begegnung mit deinem Pilgerbruder oder deiner Pilgerschwester ist eine Zeit gegenseitiger Ermutigung, des Verständnisses, der miteinander geteilten inneren Ruhe. Du lässt dich auf andere Lebensformen und Kulturen ein, wenn du dich nicht in deine gewohnte Komfortzone zurückziehst. Du kommst am Abend an und spürst, dass du willkommen bist. Manchmal bekommst du sogar einen Wegesegen von deinen Quartiergebern.
Herbergen
So verschieden die Landschaften und Orte sind, durch die der Pilger kommt, so abwechslungsreich und teilweise ungewöhnlich sind auch die Unterkünfte. Auf den seit einigen Jahren wieder belebten Pilgerwegen in Mitteldeutschland erlebten wir neben gut ausgestatteten Zimmern in Diakonischen Einrichtungen auch Gemeinderäume, in denen die Möglichkeit bestand, seinen Schlafsack auf bereitgestellte Matratzen zu legen und auch Kochgelegenheiten zu nutzen. Von Jahr zu Jahr zunehmend, gibt es auch in Deutschland extra eingerichtete Pilgerherbergen, manchmal von der Jakobusgesellschaft initiiert, ein anderes Mal von den Gemeinden eingerichtet, deren Einwohner sich über die Wahrnehmung und Wertschätzung ihres Ortes als Pilgerstation freuen. Nicht zu vergessen sind die fürsorglichen Herbergseltern, die gern ein leergezogenes Kinderzimmer als Unterkunft bereitstellen. Es kommt auch vor, dass man auf Pensionen oder Ferienwohnungen ausweichen muss. Groß ist die Freude, wenn der Pilgerweg bei Pranafreunden vorbeiführt, wo man zwischendurch mal ein Stück „zu Hause“ genießen darf.
Ungewöhnliche Nachtlager begegneten uns in einer als Landkino eingerichteten Scheune, einem Pilgerquartier auf einer Orgelempore mit laut rasselndem Kirchenuhrwerk zur Nacht oder auf den Brettern einer kleinen Vorstadtbühne.
Auf dem „großen Weg“ nach Santiago finden sich in den professionell organisierten Herbergen am Abend Pilger aus vielen Ländern ein. In der Regel nehmen die Pilger viel Rücksicht aufeinander. Alle sind gleichermaßen müde, gehen nicht zu spät schlafen und stehen in aller Frühe auf. Wer einem Wettlaufen um die begehrten Betten entgehen möchte, dem sei der wesentlich ruhigere Caminho Portugues empfohlen.
Spiritualität
Oft werde ich gefragt, was denn ausser dem Ziel des Weges der Unterschied zwischen Wandern und Pilgern sei. Es ist nicht die Länge deines Weges, nicht das Gewicht auf deinem Rücken, nicht der Stempel in deinem Pilgerausweis, es ist das, was du ganz persönlich daraus machst.
Spiritualität ist für den Pilger nichts Aufgesetztes, kein Etikett oder schmückendes Beiwerk. Deine Spiritualität wird genährt aus deiner inneren Ruhe, deiner Offenheit, deiner Selbstdisziplin, deiner Fähigkeit loszulassen und dich ganz auf den Weg mit seinen Schönheiten und Widrigkeiten einzulassen, durch die gelebte Verbundenheit mit allem was dir begegnet wie auch der Andacht in einer Kapelle oder in freier Natur. Du betest sozusagen mit deinen Füssen, deinem Rücken, deinem Atem. Deine Füße und dein Rücken mögen dabei bisweilen schmerzen, deine Seele befindet sich jedoch auf einer Kur.
Dipl.Phil. Patricia Gulde
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